Theophrast: Der 31. Charakter

Nach einem neugefundenen Papyrus des Ägyptischen Museums zu Plagwitz, herausgegeben von der Philologischen Gesellschaft zu Leipzig.

Die Philologie

Die Philologie ist einfach ein Übermaß von Verlangen nach alten Schriften und Dingen, der Philologe einer, der die Bücher, die Papyri, die Inschriften und anderes der Art, allein schon weil sie alt sind, über alle Maßen schätzt und für heilig hält - und glücklich ist, wenn sie nicht heil, sondern durch viele Fehler und Lücken verdorben gefunden werden; denn solche Schriften wiederherzustellen und berichtigen, nennt er seine liebste und vornehmste Tätigkeit. Und wenn irgendwo eine alte Schrift gefunden wird - ist sie auf Papier geschrieben, so freut er sich; ist sie auf Pergament, so tanzt er; ist sie auf Papyrus, so jauchzt er vor Freude; ist sie auf Stein, so stimmt er ein Jubellied an; ist sie aber auf Bronze, so kniet er gar er vor ihr nieder. Und für das, was seine eigene Zeit hervorbringt, hat er gar keine Bewunderung übrig und brummelt nur immer aus den homerischen Gedichten der Vers: "... wie jetzt die Menschen sind"; erblickt er aber eine Statue, eine von denen ohne Nase, voller Bruchstellen, ohne Beine und Arme, oder auch eine Scherbe von einem abgenutzten alten Tonkrug mit dem Hintern eines Jünglings darauf, so macht er vor Wonne einen Luftsprung und ruft entzückt; "Das hier - wie trefflich das wieder ist!" Und er verbringt mehr Zeit in den Bibliotheken als in seinem Haus, und auch da hat er Schlafzimmer, Herrenzimer und Kinderzimmer vollgestopft mit Büchern. Und dem Mädchen gibt er strenge Order, ja nicht seinen Schreibtisch abzustauben oder gar aufzuräumen. Und trifft er eines von seinen zahlreichen Kindern auf der Straße, so erkennt er es nicht, sondern fragt es freundlich: "Liebes Kind, was weinst du? Wer, wes Vaters bist du, und wo ist dein trautes Zuhause?" Er ist auch ein Meister darin, seine Kinder mit fünf Jahren homerische Gesänge auswendig lernen zu lassen, und seine Frau das griechische Alphabet. Und die alten Gesetze der Griechen und Römer kennt er genauer als die seines eigenen Landes. Und seine Mäntel trägt er nach der alten Mode, und die Hosen kürzer als die Beine. Und unentwegt doziert er irgendetwas und wird ungehalten, wenn einer ihm nicht folgen will. Und mit seinen Fachkollegen liegt er ständig in heftigem Streit, wo er dann gegen das Geschrei der anderen mit erhobener Stimme darauf beharrt, das einzig Richtige sei, was er selbst gesagt habe. Dabei gebraucht er Wendungen wie: "Ich glaube das nicht", und "Das ist Unsinn", und "Das Gegenteil habe ich kürzlich klar bewiesen", und "Haben Sie noch nicht gelesen, was ich gerade darüber geschrieben habe?" Und er reist am liebsten nach Athen und Rom und schwärmt von dem Himmel dort, dem Land, dem Meer, den Männern, Frauen und jungen Mädchen; und die Bilder von dem allem, die er immer mit sich herumträgt, betrachtet er in Entrückung. Und indem er wertlose oder nachgemachte Münzen, Scherben, Steinchen, Fläschen und solches Zeug kauft, braucht er, ohne daß er's merkt, sein Reisegeld auf. Und wenn er nach Hause zurückkommt, verspricht er seiner Frau (in margine: und seiner Schwiegermutter), sie das nächste Mal mitzunehmen.

Beilage zur Festgabe an die 44. Versammlung deutsche Philologen und Schulmänner zu Dresden, wiederabgedruckt im originalen Griechisch und in deutscher Übersetzung von K. Bartels, Klassische Parodien, Zürich 1968.